Als würde der Weg immer schon gegangen worden sein werden.

In meinem C-Wohnzimmer gab es mit einem Mal eine neue Türe. Ich weiß nicht, ob sie mir einfach lange nicht aufgefallen war, oder ob ich sie gleich bemerkt habe, denn sie befand sich hinter dem Spiegel. Im Spiegel kann man seine Gestaltungen erproben, man kann Körper anprobieren, die es nur auf seiner Oberfläche gibt - und ich sehe selten dahinter, er ist eigentlich nie transparent. - Diese Türe war jedoch eine, der man sofort ansah, daß sie auf einen wartet, daß man sie öffnen muß, weil der Weg dahinter der eigene ist.

Die Tür mußte von ihm kommen, es war seine.

 

Die ungewöhnlichste Einladung, die ich bisher erhalten hatte. Sie nahm sich recht eigentümlich aus in meinem Wohnzimmer. Auf seltsame Weise harmonierte sie mit der Zimmereinrichtung, indem sie überhaupt nicht dazu paßte. Außerdem schien sie mehr als eine Türe, sie war eine Art erfüllendes Versprechen. Wie wenn man seine Unschuld verliert, wenn man durch sie hindurchgeht.

Als ich die Türe öffnete - eigentlich war ich überhaupt nicht daran beteiligt, sie öffnete sich mir - stülpte sich das Wohnzimmer um, nur mehr eine Gabelung des Weges, der in sich selbst zurückführte. So würde ich zu ihm kommen, als sei alles, was

 

ich bisher war und was mich umgab nur mein zu ihm kommen gewesen. Hinter der Tür gab es keine erkennbare Grenze. Mein Wohnzimmer waberte wie eine Blase darin. Bald aber sah ich, daß sich diese Blase nur mehr in meinem Spiegel spiegelte - die Türe war im Spiegel gewesen. Das ganze Wohnzimmer hatte es nur im Spiegel gegeben. Und jetzt, im Öffnen der Türe, verschwand auch der Spiegel. Man konnte sie nur einmal öffnen. Ich war allein.

Ich wurde nicht mehr geführt. Nicht der erwartete Weg. Es war immer schon eine Suche gewesen. Ich wollte wissen, wer er war. Alles war verdächtig, und die Tür war nichts anderes gewesen als die Form meines

 

Verdachtes.

Ich befand mich hinter ihm. Er mußte Spuren hinterlassen. Fast alle waren belanglos. Verweise, die auf nichts mehr zeigten. Irgendwie spürte ich, daß es etwas gab, das es mich umkreisen ließ. Es gab etwas, daß ich wissen sollte, und da es nur mein Wissen sein würde, suchte es mich.

Die Leere füllte sich langsam. Es war ein Draußen, das ich bisher nicht gekannt hatte. Hier gab es keine fertigen Simulationen, die einen umflossen und in ihrer Wirklichkeit sein ließen. Hier verloren sich die Bilder und man sah, daß es dahinter nichts gab. Ich trieb wie durch zerrissene Wirklichkeits-

 

fragmente. Es mußte sich um Restprodukte handeln, die noch irgendwo in den Speichern lagen. Ich hatte keine Ahnung, warum sie sich jetzt aufbauten, und wie ich in diese Bereiche gekommen sein konnte, zu denen jede Verweise schon längst gelöscht waren. Es war Speicher, der jeder Zeit von irgendwelchen laufenden Programmen überschrieben werden konnte und neue Simulationen tragen würde. Ich wußte nicht, was dann mit mir passieren würde.

Es war mir unerklärlich, wie es möglich für mich war, mich in diesen Bereichen, die für das Netz ungefähr wie das Unbewußte vor dem endgültigen Vergessen waren, frei zu bewegen,

 

ohne Programmstruktur. Die Simulationen schienen hier zu wuchern aber sie waren voller Löcher. Es waren alte, abgelegte Welten. War er hier gewesen?

Überall in mir schien es zu flüstern. Ich weiß nicht, was mich trieb. Die normale Reaktion wäre, schleunigst zu versuchen, wieder in kontrollierte Zonen zu kommen. Hier hatte ich nicht Mal eine Ahnung, wie ich wieder in mein Wohnzimmer kommen könnte, um das C problemlos zu verlassen. Aber ich hatte überhaupt nicht das Bedürfnis nach dieser Sicherheit. Beide Arme weit von mir gestreckt, ließ ich mich durch diese Bruchstücke treiben. Als wäre ich absichtlich

 

hierhergekommen. Es war kein Zufall. Ich mußte wissen, wer er war. Was für ein Spiel spielte er? Der Weg zu ihm in meinem Gedächtnis fest eingegraben. Ich war schon oft hiergewesen. Fast immer. Alles andere waren nur die Momente, in denen man die Augen schließt. Mit einemmal schien es sogar möglich, daß das Draußen, von dem ich mich in mein C-Wohnzimmer koppelte, ich, wie ich mich fühlte, alles, was wirklich war, nur aus sich bewegenden Daten bestand, ein Fluß unter anderen, belanglose Bewegung unzähliger Stromimpulse. Die Möglichkeit, mich zu verlieren erregte mich. - Ich stieß einige Male hart an. Ich befand mich in einem

 

geschlossenen kugelförmigen Raum. Er schien nur aus Farbe zu bestehen. Dann war ich dieser Raum. Irgendwo lauerte der Schwindel und ich fiel in einer endloser Spirale weit hindurch auf ein gläsernes Pferd, das mich davon trug, in ein riesenhaftes Stadion und dort unter mir so durchsichtig wurde, daß es ganz verschwand und ich langsam auf den Boden durchrutschte. Dann waren um mich unzählige kreischender Mädchen. Mein Mund öffnete sich langsam, der Schlitz aufeinandergepreßter Lippen stieg und wölbte sich, und aus der tiefen inneren Schwärze hinter einem lockend roten Rachen und blendend weißem Zahn stieg und stieg unaufhaltsam, im Steigen alle Zeit

 

fressend, bis er mit der ganzen Wucht meines Ichs in die tosende Weite herausgeschleudert wurde und trotz der unglaublichen Gewalt all meines Sehnens darin verschwand, als hätte es ihn nie gegeben - mein SCHREI, und trug doch dazu bei, daß es nicht völlig still werden konnte, und sein sichtbares Echo war wie das Erleben eines Films aus den Anfängen: Das letzte Konzert der Beatles. Dort war man damals, es stand in allen Geschichtsaufzeichnungen, an einem Extrem der Wirklichkeit angekommen. Für die schreienden Menschenmassen existierten The Beatles nur noch als Bilder, als Idee, nur da, um das Publikum, um die Wirklichkeit in Ekstase zu

 

versetzen. In der wirklichen Welt gab es von dort aus keinen Weg weiter (alle nachfolgenden Massenveranstaltungen im Draußen konnten sich höchstens bemühen, Wiederholungen zu inszenieren), also mußte man versuchen die Wirklichkeit irgendwie aufzuheben. In dieser Zeit drehte man die ersten Musikvideos - die Beatles konnte man nur noch im Bild erleben. Das, was man Fernsehen nannte, hatte damals schon begonnen, eine bewegliche Bilderwirklichkeit aufzubauen, man redete viel von Medien, doch der Beginn der wirklichen Medienwelt fiel erst in die Zeit, als es möglich wurde, Bilder (die sich von den Photographien des

 

Draußen nicht mehr unterscheiden ließen) ohne gegebene Wirklichkeit, ohne Wirklichkeitsvorbilder, zu erschaffen. Die Große Vernetzung begann. Dennoch gab es noch den Gegensatz zwischen der Wirklichkeit der Betrachter und der Bilder. Der lange Weg zum Bild hatte angefangen. Die Wirklichkeit des Betrachters mußte aufgehoben werden, wollte man jene Ekstase, wie sie bei den Beatles möglich geworden war, wieder erreichen und übertreffen. Der Durchbruch kam mit dem Aufheben des Bilder-Schauens in ein Bilder-Sein. Das, was schon vorher einige geniale Seher gegen großen Unverstand, der sich ihnen entgegensetzte, theoretisch

 

formuliert und benannt hatten, wurde Wirklichkeit: CYBER. Die Bilder, in denen man sich bewegte, wurden immer wirklicher, bis man die Differenz von Bild und Wirklichkeit wirklich aufgehoben hatte. Die Wirklichkeit der Bilder beruhte nur auf einem anderen Materienkorrelat (sie kam mit weniger Materie aus - doch das sind alles veraltete, fragwürdige Begriffe geworden). Der Mensch existiert nun im Cyber, er wird bald restlos seine eigene Technologie geworden sein, der Unterschied zwischen Natur und Technik wird aufgehoben werden, genommen in das absolute Bild der Cyber-Welt, die alles enthält, weil sie alles aufgehoben hat. Unbegrenztheit und

 

Mannigfaltigkeit wird erst hier möglich. Die Wirklichkeit ist das CYBER. Sie ist codiert, das Cyber-Chaos korreliert mit der absoluten Ordnung von 0/1 die URzeit wird das cyberbild aufheben, sie bringt die reine bewegung 0/1 als ein und dasselbe ihres unterschieds und ihres übergehens

Ich erhob mich, die Pause war eingeläutet, die letzten Ausführungen des Unterrichts hatte ich nicht verstanden, zudem hatte sich der Lehrer immer mehr verformt, bis er so aussah, wie man sich frei fließenden Strom vorstellt - ... aber Unterricht und Schule gab es doch schon lange nicht mehr. ... Dennoch war ich Draußen. Die Gräser hatten sich verfärbt - und ich weiß doch, daß ich wo

 

anders bin... - ihre Zeit gab es nicht mehr. Ich ging ein bißchen in den Hof. Die langweiligen Gesichter der Klassenkameraden. Die Leere dazwischen. Alle taten, als sähen sie aus ihren Augen. Im Himmel gab es kein Gras. Seine Wolken waren eine einzige. Ich stand so fest auf dem Boden. Der Hof war groß. Jeder Schritt der gleiche. Himmel. Gras. Ich sah den Stein. Ich sah nur ihn. Nur noch den Stein. Er veränderte sich, als zöge sich sein graues tiefes Unwissen in Nebelschwaden zurück. Es glomm ein Funke inmitten dieser Durchsichtigkeit. Quarz. Wie das Auge des Großvaters, der mir alles erzählte. Alle Mythen. Das Netz ist die Neue

 

Mythologie. Die, die alle aufnimmt. Und Sand. Viel mehr Sand. Nur noch Sand, in den sich alles eindrücken ließ, alles das, was es nicht gab. Als hätte es schon immer dort gespielt. - ... Ich war auch nicht sicher, ob es einen Großvater gab, der mir davon erzählt haben konnte. Vielleicht hatte ich einmal jemanden getroffen, auf einem der verrückten 'Das-letzte-Jahrhundert' Partys, die irgendwelche Freaks, die leidenschaftlich Vor-Cyber-Zeiten simulierten, immer wieder durchzogen. Früher war ich oft dort und trug - ein Freund und Geschichtswühler hatte mich darauf gebracht und sie entworfen - sogar einmal eine Außenzahnspanne, die natürlich

 

alle Blicke auf mich zog und mir große Beliebtheit und einen Fick im Stroh verschaffte. Der Kerl hatte sich irgendein komisches durchsichtiges Ding über den Schwanz gestülpt. - Doch ich gehörte sehr bald zu den Menschen, die vergangene Zeit langweilt. Alles schien so, als ob Erinnerungen, die nicht meine waren, von irgendwo auf mich zufielen und so taten, als ob sie ich wären.

Ich hatte so vor mich hingesonnen und schlug die Augen auf. Es wurde wieder wirklicher. Doch ich war jetzt weiter weg. Aber es lag nun alles deutlich vor mir. Ich hatte wieder an Objektivität gewonnen. Er war

 

noch vor mir. Aber ich wußte, daß er alles tat, damit ich ihm folgen könnte. Er ging weit hinaus.

Als ob hier das Vergessen lagerte. Er wird wohl nicht mehr da sein, wenn ich ankomme. Nur seine Nachricht, die dort liegen und warten würde bis ans Ende der Zeit.

Der Datenfriedhof. Und obwohl ich kein Programm bin, habe ich dennoch Angst um mein Leben, daß ich versehentlich in den Strudel der Auflösung gesogen werde, der am einen Ende immer aktiv ist.

Das Wissen, das mich suchte, mußte sich in der Nähe jenes Gebietes befinden, das unmittelbar vor der Aufnahme einer neuen

 

Natur stand, es war also Eile geboten. - Endlich schimmerte mir das Symbol wie eine blaue Blume verdeckt von anderem Müll entgegen, und obwohl ich es in meinen Speicher kopierte, schien es nie dort angekommen zu sein. Eine Spur, die in die Randbezirke des Netzes führt und die nach eingehender Betrachtung einfach verschwindet und nie mehr wieder nachzuvollziehen ist.

Das Symbol öffnete sich und der Blick auf eine riesige Kathedrale wurde frei, die in schwarzem Stein errichtet worden war. Ich betrachtete sie von allen Seiten, fand aber keinen Zugang, es befanden sich keine Tore oder Türen an ihr, bis ich bemerkte, daß die

 

einzige Öffnung ein kleiner, runder Spalt oberhalb eines schwarzen Glasfensters war, dessen Mitte ein Kreuz zierte.

Ich bewegte mich dorthin und drang in das Innere und mußte feststellen, daß die Kirche etwa dreißig Meter hoch war und ich unterhalb des Dachfirsts schwebte. Fast völlig dunkel war es hier, doch meine Augen gewöhnten sich schnell daran. Jetzt war ich imstande, die Schatten, die sich unter mir auftaten zu identifizieren, als Statuen auszumachen, oder als steinerne Bänke. Über dem Altar machte ich Halt und verringerte meine Höhe zum Boden. Ich wußte im Grunde nicht genau, was ich eigentlich suchte, und die Zerstörung

 

dieser Daten stand kurz bevor.

Plötzlich bewegte sich etwas an einer Wand. Noch jemand hier im C? Nein, eine drachenartige Figur bewegte den Kopf, schwenkte ihn hin und her, als versuche sie lautlos auf sich aufmerksam zu machen. Sofort steuerte ich sie an. Jetzt hielt sie wieder inne und ich betrachtete sie genau. Zwei Hörner zierten den schlangenartigen Kopf, der wiederum an einem schuppigen Hals mit einem rundem Korpus verbunden war. Es schlug die Augen auf, die im matten Grün schimmerten.

Die Maske. Da liegt die Maske vor mir. Ihre leeren Augen. Du mußt dich verändern. Keine Navigation mehr. Mir ist alles entzogen.

 

Zieht es mich zu ihr hin. Vor ihr zu verharren - mein Schicksal in diesem Raum, der immer leerer wird. Ihre Wörter kommen fast ohne Klang, wie es sein muß, gehüllt über das Nichts. Im Angesicht. Herum versackt es - ein Weg- und Zusammenstürzen. Was soll ich tun. Wer bin ich hier. Die Augen öffnen sich. Der Blick geht zurück. Es durchzuckt mich. Einer dieser Punkte, an dem es keine Alternativen mehr gibt. Es passiert dann, was passieren muß. Es gibt diese Gefahren, wie wenn man sich zu weit vorgewagt hat. Mancher dieser Besucher in dieser Welt kam nicht mehr hervor. Aufgesogen. Es gibt nur noch einen Weg. Nur diese eine Maske im leeren Raum vor

 

mir. Unglaublich, zu glauben, sie sei nicht älter als das ganze Netz, sie hätte es nicht erst hervorgebracht. Wie wenn die eigene Welt auch darin sei. Vor der Maske. Alles von der Maske her. Masken bergen ein Dahinter - bei dieser scheint der Effekt zu sein, daß man weiß, daß es nichts dahinter gibt, daß man am Ende ist - alles wegzunehmen. Die Maske. Sie spricht innerhalb meiner Ohren, direkt von meinem Gesicht: ER IST NUR IM NETZ HIER: NUR HIER: WAS SONST? NIRGENDS ANDERS! Ich werde anders. Es entzieht sich. Die Maske schwarz vor mir. Sie schweigt. Die Maske schweigt. Als wäre alles gesagt. Vor mir die Maske. Ihre Augen weiten sich. Fast blicke ich

 

hindurch. Dahinter. Es löst sich. Die Maske stülpt sich über. Von allem lassen. Ich falle hindurch.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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WeltII, Leseprobe
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