An jenem Abend gab ich einem inneren Zwang nach, als ich etwa gegen halb
neun das Haus zu einem kurzen Spaziergang verließ. Es hatte keinen
Zweck, ich mußte einfach an die frische Luft, ich dürstete
geradezu nach etwas Bewegung, nach dem Gefühl zu leben, das während
eines langen trüben Tages in einem gut geheizten Haus so stark verblaßt.
Kaum hatte ich die Türe geöffnet, da strömte mir auch schon
die schwere Feuchtigkeit der Oktobernacht entgegen. Ich atmete tief durch
und trat auf die Straße hinaus. Um diese Jahreszeit war es jetzt
schon völlig dunkel. Gemächlich schritt ich durch das kleine
Dorf, meinen großen Schirm aufgespannt, um den leichten Regen fernzuhalten,
der nur unter den Straßenlampen deutlich zu erkennen war. In den
meisten Häusern brannte Licht. Ab und zu vernahm ich das Geräusch
eines fahrenden Autos, ansonsten herrschte jedoch vollkommene Stille.
Am Dorfrand angekommen, erblickte ich ungefähr dreißig Meter
vor mir auf der linken Straßenseite die letzte der Lampen - dahinter
befand sich das Nichts, zumindest schien es so, denn dort erhob sich eine
riesige Nebelwand, die dem Auge unbarmherzig jeden Einblick in ihr Inneres
verwehrte.
Einen Augenblick lang zögerte ich: Sollte ich umkehren, zurück
zum warmen, behaglichen Zuhause? Doch ich war der geheimnisvollen Aura,
die diesem Werk der Natur anhaftete, schon erlegen. Entschlossenen Schrittes
steuerte ich auf die leuchtende Wand zu und tauchte in sie ein.
Innerhalb der Nebelwolke betrug die Sicht nur wenige Meter, und daher
war ich sehr erleichtert, daß ich mich in einer Gegend befand, die
ich wie meine Westentasche kannte, aus der ich notfalls auch blind wieder
nach Hause gefunden hätte. Die Lichter des Dorfes blinkten nur noch
schwach in der Ferne, wie Irrlichter in einer Sumpfgegend erschienen sie
mir. Links zweigte ein Feldweg von der Straße ab, und ich schlug
ihn ein, da er einen weiten Bogen beschrieb und später auf die Straße
treffen würde, die ins Dorf zurückführte. Ich erklomm einen
steilen Hügel und befand mich gerade wieder auf dem Abstieg, als
ich, die Augen seitwärts zu den Lichtern des Dorfes hin gewandt,
gegen einen kantigen hölzernen Gegenstand rumpelte. Das unförmige
Ding rollte davon, den Hügel hinab, doch bevor es im Nebel verschwand,
konnte ich noch erkennen, gegen was ich gestoßen war: ein Klavier!
Es handelte sich tatsächlich um ein Klavier! Während ich mich
noch darüber wunderte, hörte ich nur wenige Meter von mir entfernt
eine ärgerliche Stimme: "Verdammt, verdammt, das konnte ja nicht
gutgehen!" Neugierig trat ich einige Schritte vorwärts und erkannte
einen alten Mann mit südländisch anmutenden Gesichtszügen
und weißem Bart.
"Es tut mir leid, wenn ich Sie gestoßen habe", entschuldigte ich
mich. "Hoffentlich ist dem teuren Instrument nichts geschehen."
"Ach was! Schon gut!" erwiderte er mürrisch. "Das ist nicht das erste
Mal, daß mir sowas passiert."
"Spielen Sie Klavier?" fragte ich in der Hoffnung, einen Musikerkollegen
vor mir zu haben.
"Ich? O nein, nein, ich bin nur der Transporteur", antwortete er, nun
spürbar freundlicher, da ich mich für ihn interessierte. "Wissen
Sie, der Möbeltransport - das ist mein Leben. Ich bin schon seit
einer Ewigkeit im Geschäft. Also wenn Sie mal was haben..." Er zog
eine Visitenkarte aus seinem Arbeitsoverall und reichte sie mir. Ich konnte
jedoch in der Dunkelheit nichts lesen.
"Sie müßten mir allerdings schreiben, ich habe leider immer
noch kein Telefon", fügte er hinzu und wollte sich auf die Suche
nach dem bergab gerollten Klavier machen.
"Wie ist denn zur Zeit bei ihnen die Auftragslage?" fragte ich, nur um
das Gespräch mit diesem Kauz noch etwas weiterführen zu können.
"Och, es könnte schon besser laufen", meinte er, "aber ich habe einen
festen Kreis von Stammkunden, der ständig dafür sorgt, daß
mir die Arbeit nicht ausgeht."
"Kann ich Ihnen vielleicht helfen, das Klavier zu finden?" bot ich mich
an. "Wenn wir es gemeinsam den Hügel hinaufschaffen, ist der Rest
doch ein Kinderspiel."
"Wie? O nein, vielen Dank", lehnte er ab, "aber das möchte ich schon
allein erledigen. Meine Auftraggeber sind da sehr penibel. Schönen
Abend noch!" Und schon war er im Nebel verschwunden.
Ich setzte meinen Weg fort und erreichte bald darauf die Straße
wieder. Fast genau am Ortseingang endete der Nebel schlagartig; wohlbehalten
gelangte ich nach Hause. Dort zog ich die Visitenkarte des alten Mannes
aus der Tasche und betrachtete sie im Schein meiner Lampe. Der Regen hatte
das Papier so aufgeweicht, daß die Adresse des Spediteurs nicht
mehr erkennbar war, doch deutlich konnte ich den Namen lesen, der in griechischen
Lettern die Karte zierte: Sisyphos.
"Mein lieber Freund", sagte ich, während ich eine Tasse heißen
Tee einschenkte, "ich fürchte, dein Auftrag wird dich noch einige
Zeit beschäftigen."
(Oktober 90)
Kilian Fitzpatrick / Christoph Schäferle/ Nikolai Vogel: UND ANDER UNTIEFEN Leseprobe